Samenhändlerdorf Gönningen

Die Tulpenblüte wird im Reutlinger Stadtteil Gönningen regelrecht inszeniert. Sie erinnert damit an die Geschichte des Ortes, als ein großer Teil der Bevölkerung mit dem Handel von Blumenzwiebeln und Samen ein gutes Auskommen fand. Gönninger betrieben Handel in ganz Europa, sogar in den Vereinigten Staaten.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die blühenden Tulpen auf dem Gönninger Friedhof ein Magnet für Besucher, die mit der Bahn und später mit Bussen anreisten. Die Tradition, Gräber mit Zwiebelblumen zu schmücken, flaute im ausgehenden 20. Jahrhundert ab. Doch vor zehn Jahren ließ bürgerschaftliches Engagement den Brauch im wahrsten Sinne wieder aufblühen. Seither schwillt der Besucherstrom im Frühjahr von Jahr zu Jahr wieder an.
Der Ort am Aufstieg zur Schwäbischen Alb stellt genau das Gegenteil vom typischen Dorf dieser Region mit den kargen Böden und dem rauen Klima dar: Während sonst in der Umgebung Schmalhans am Küchentisch saß, man Brot aus Dinkel buk, der bei der kurzen Vegetationszeit gerade noch zur Reife kam, Leinenweber in ihren feuchten Kellern sich das Nötigste zum Überleben hart verdienten, waren die Gönninger durch den Samenhandel im Lauf der Jahrhunderte wohlhabend geworden.

Bunt gesprenkelt von Tulpen in allen Schattierungen präsentiert sich der Gönninger Friedhof im April.

Bunt gesprenkelt von Tulpen in allen Schattierungen präsentiert sich der Gönninger Friedhof im April.

Dabei liegen die Ursprünge des Samenhandels im Dunkeln. Erste Belege für den Bezug von Saatgut von Lieferanten für den Weiterverkauf liegen vom Ende des 16. Jahrhunderts vor. Im 17. Jahrhundert verkauften die umherziehenden Hausierer Produkte aus eigener Herstellung: Dörrobst und Honig zum Beispiel, später ergänzt um Käse, Nüsse oder Uhren. Hinzu kame n selbst vermehrte Obstbäume, die rund um Gönningen in großer Zahl wuchsen, so wie überall in Württemberg. Die Produktpalette dehnte sich auf Rosen, den sehr einträglichen Hopfen sowie Blumenzwiebeln und Samen aus. Besonders Tulpen hatten einen hohen Stellenwert, schließlich war im 17. Jahrhundert in den Niederlanden das Tulpenfieber ausgebrochen, bei dem Zwiebeln zu schwindelerregenden Preisen versteigert wurden.

Bei den beschränkten Anbauflächen rund um den Ort erzwang es die wachsende Bevölkerung im 18. Jahrhundert regelre cht, dass mit dem Handel ein weiterer Erwerbszweig neben der Landwirtschaft erschlossen wurde. So kam es, dass zeitweise die Hälfte der Bevölkerung im Samenhandel unterwegs war. „Was gesund ist und laufen kann, geht dem Handel nach”, heißt es im Pfarrbericht von 1792.

Fortschritt und Wohlstand

Ende des 19. Jahrhunderts war etwa ein Viertel aller Umherziehenden weiblich, für die damalige Zeit kaum vorstellbar: Frauen, die allein auf Reisen gingen, unabhängig vom Ehemann, der entweder ein eigenes Gebiet bereiste oder zu Hause bleiben musste, um ein Handwerk auszuüben. Viele Gönninger Frauen verdienten ihr eigenes Geld, fühlten sich eigenständig und entschieden selbstständig, viele standen als Chefin einer eigenen Firma vor.
Der Samenhandel prägte das Leben von Gönningen, das seit dem frühen Mittelalter Stadtrecht besaß. Dabei waren die Reisezeiten an die Erfordernisse der Landwirtschaft angepasst: Nachdem die erste Heuernte eingefahren war, zogen die Händler nach Jacobi, dem 25. Juli, aus zum Handel mit Dörrobst und Blumenzwiebeln.

In der Regel wird eine Grabfläche dicht mit einer Sorte bepflanzt.

In der Regel wird eine Grabfläche dicht mit einer Sorte bepflanzt.
Zur Getreideernte war man zurück und schwärmte im Oktober und November aus, vorwiegend um Bestellungen für Samen aufzunehmen. Weihnachten wurde daheim verbracht, zu Beginn des Jahres brach man wieder auf zum Ausliefern des Samens, um zu Ostern zurückzukehren.
Unglaublich beschwerlich muss das Reisen gewesen sein, bevor sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein Eisenbahnnetz in Europa entwickelte. Zumeist war man auf Schusters Rappen unterwegs, doch zu Beginn der Reise zogen oft mehrere Händler auf einem Karren gemeinsam los und trennten sich nach einer Weile, um in verschiedene Richtungen auszuziehen. Jeder Händler bereiste ein bestimmtes Gebiet, das man als Samenstrich bezeichnete.
Händler und Abnehmer kannten sich gut. Die Kunden verließen sich auf ihren Händler, dieser fühlte sich verpflichtet, seinen Kunden gute Qualität und das richtige Saatgut zu verkaufen. Zum Verkauf gehörte es, ein geeignetes Sortiment anzubieten und Hinweise für den Anbau zu geben. Dazu kamen dann auch Ratschläge, wenn Probleme bei der Kultur auftraten. Bald schon sehnte man sich in entlegenen Gebieten nach dem Besuch des Samenhändlers, der Neuigkeiten mitbrachte und dazu Beratung zu Fragen des Landbaus wie überhaupt zu allen Lebenslagen bot. So entstanden enge Vertrauensverhältnisse, zumal der Samenstrich jeweils auf die nachfolgende Generation weitervererbt wurde.
Eine typische Samenhändlertracht gab es nicht, die Hausierer kleideten sich so, wie es in ihrer Absatzregion üblich war. Zur Standardausrüstung gehörte jedoch der Zwerchsack zum Transport der Ware, ein Doppelsack aus Leinen, den man über der Schulter trug und der die Verkaufsware für den jeweiligen Tag enthielt.
Die Gönninger Samenhändler belieferten zunächst die nahe gelegenen Gebiete in Württemberg, Baden, Bayern, der Schweiz, etliche schwärmten viel weiter aus, ihre Reisen dauerten dadurch wesentlich länger, manchmal mehr als ein Jahr. Gönninger handelten in ganz Mittel- und Osteuropa, es gab Handelsbeziehungen auch nach Istanbul, Riga, Sankt Petersburg, Novgorod, Saratow und Astrachan am Kaspischen Meer. In den Villengärten auf der Krim wurden Blumen aus Gönninger Samen herangezogen. Ende des 19. Jahrhunderts waren 14 Samenhändler aus Gönningen in den USA unterwegs.

Handel mit der Welt

Eigenen Samenbau konnte man im Gönninger Klima nicht betreiben, daher musste man Samen in begünstigten Anbaugebieten zukaufen, etwa in Norditalien, Ungarn oder Sachsen, Blumenzwiebeln bezog man aus Holland. So musste der Ankauf von Ware mit dem Verkauf zeitlich aufeinander abgestimmt werden. Und auch der Transport der Ware war zu organisieren. Weil mehrere Erben eines Samenstrichs für sich weitere Gebiete erschließen mussten, um ihr Auskommen zu finden, kam es zu einer Erschließung der Absatzmärkte im Schneeballsystem.
Wegen der hohen Steuerlast in Württemberg ließen sich viele Händlerfamilien im Lauf der Zeit in den Gebieten nieder, in denen sie handelten und die Nähe zum Kunden auch wirtschaftlich von Vorteil war. So gründete die Firma Haubensak Niederlassungen in Regensburg und Basel. Die Firma Kemmler dagegen hatte sich im schlesischen Liegnitz niedergelassen. Dort erkannte man, dass sich das Gebiet im Südosten von Berlin für den Anbau von Gurken eignen müsse, den dortigen Bauern wurde dieser Anbau empfohlen, da das Absatzgebiet der Großstadt quasi vor der Haustür lag. Damit hat die Spreewald-Gurke ihre Wurzeln in Württemberg.
Aus den Geschäftsbeziehungen der Zieglers, die ihren Sitz in Sankt Petersburg hatten, resultierte der Erwerb von Gemälden aus der umfangreichen Sammlung des Zaren. Die wieder nach Hause zurückgekehrten Samenhändler legten mit diesen Kunstwerken den Grundstock für die renommierte Staatsgalerie in Stuttgart und die städtische Kunstsammlung Reutlingen.

Der Samenhandel prägt bis heute den Ort Gönningen: Die stattlichen Häuser muten eher städtisch an, es gibt nur zurückhaltende Spuren der früheren, sparsam betriebenen Landwirtschaft.
Auf der Wiese vor der Aussegnungshalle blühen fröhliche Narzissen.

Auf der Wiese vor der Aussegnungshalle blühen fröhliche Narzissen.

Die große dreischiffige Kirche und das Rathaus im Jugendstil mit Arkadengang geben Zeugnis vom damaligen Wohlstand. Zudem hat es früher in dem Ort mit rund 3000 Seelen sage und schreibe 16 Gasthäuser gegeben. Die Gönninger waren es von ihren Reisen her gewohnt, abends im Gasthaus zu sitzen; sie waren gesellig und stets begierig darauf zu erfahren, was andere auf ihren Reisen erlebt hatten. Der abendliche Aufenthalt im Gasthaus hat die Lebensweise der Händler auf der Reise geprägt. Dort wurde nämlich Samen für den Handel am nächsten Tag in Tütchen verpackt. Während sich die Männer dem Trinkgenuss hingaben, saßen die Frauen strickend in der Stube. Sie wurden als kundige Ratgeberinnen geschätzt, und verkauften dadurch oft besser als die Männer.
Überhaupt schienen die Gönninger durch den Kontakt mit der Außenwelt aufgeschlossener, moderner und gebildeter gewesen zu sein als die damalige Durchschnittsbevölkerung. Die Pfarrberichte des 19. Jahrhunderts klagen über eine eitle Bevölkerung (man sah auswärts so allerhand), die hochfahrend und streitsüchtig sei. Ständig gab es Klagen über die nervösen, schwer zu bändigenden Kinder im Kindergarten oder in der Schule, Begleiterscheinungen der frühen und langen Trennungen von den Eltern.
Der Samenhandel veränderte sich mit der Zeit. Mit der Post konnte man Waren versenden und musste den Transport nicht mehr selbst besorgen. Zunächst musste man die Ware für den Postversand ins 15 km weit entfernte Tübingen bringen. Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt Gönningen seine eigene Poststation. Doch der Hausierhandel geriet in Verruf und 1895 sollte das Hausieren mit Saatgut verbote n werden. Dadurch sahen die Gönninger Händler ihre Existenz bedroht und sammelten in ihren Absatzregionen Unterschriften gegen das beabsichtigte Reichsgesetz. Mehr als 60 000 Unterschriften wurden im Kundenkreis gesammelt und dem Reichstag vorgelegt. Dadurch kam die Lex Gönningen zustande, die zwar den Hausierhandel von Sämereien verbat, doch „mit Ausnahme von Blumen- und Gemüsesamen”.
Damit war die Existenz des Blumenhandels vorerst gesichert. In der wirtschaftlich schwierigen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gab es zunächst noch einen Aufschwung, denn die Notwendigkeit zur Selbstversorgung im Reich begünstigte den Samenhandel. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachen jedoch die Absatzgebiete im Osten weg, die Verbindung zu den Samenbaubetrieben und Züchtern in Mitteldeutschland und Pannonien war unterbrochen. Der Samenhandel kam mehr und mehr zum Erliegen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts gab es in Gönningen noch rund 30 Samenhändler. Heute sind nur einzelne erhalten geblieben.

Wiederbelebte Tradition

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts pflanzten die Gönninger auf den Gräbern die hoch geschätzten Tulpenzwiebeln. Dort symbolisieren die Blüten das Leben, sie drücken Wertschätzung für die Verstorbenen aus und sie repräsentieren den erworbenen Reichtum. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestaunten zahlreiche Besucher die Tulpenblüte am Rand der Alb. Sonderzüge brachten Gruppen aus Dresden und Bautzen. Zu diesen Städten bestand traditionell eine enge (Geschäfts-)Verbindung.
Der Brauch, die Gräber mit Tulpen zu schmücken, schlief im 20. Jahrhundert ein wenig ein, doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben die Gönninger ihre Tulpenblüte wiederbelebt. Dank des bürgerschaftlichen Engagements und mithilfe großzügiger Sponsoren blühen auf den Gräbern, in öffentlichen Grünanlagen und in Gärten wieder Unmengen von Tulpen.

Ein blaues Band aus Traubenhyazinthen schmückt die Rasenfläche des Friedhofs.

Durch die Zwiebelblumen strahlt der ausgedehnte Friedhof eine ungewohnte, heitere Atmosphäre aus.
Ein blaues Band aus Traubenhyazinthen schmückt die Rasenfläche des Friedhofs.
Die Tulpenblüte beginnt im März mit den kurzschäftigen Kaufmanniana-Tulpen. Ihnen folgt eine Parade einfacher oder gefüllter Tulpen, von Triumph-, Crispa-, Papagei-, Greigii- oder Lilienblütigen Tulpen. Weil die Gräber dicht an dicht mit nur einer einzigen Sorte bepflanzt sind, kommt der Charakter der jeweiligen Sorte schön zur Geltung. Zwischen den Tulpen leuchten Parzellen mit Narzissen oder Hyazinthen. Durch die Wiesenfläche vor der Aussegnungshalle zieht sich ein blaues Band von Traubenhyazinthen, weiße und gelbe Narzissen sprenkeln das andere Wiesenstück.
Vom Friedhof aus führt ein ausgeschilderter Weg entlang des Baches Wiesaz entlang von Äckern und Wiesen zur Schaupflanzung der Firma Fetzer, die sich nunmehr in fünfter Generation auf dem deutschen Markt mit der Vermarktung von Qualitätssaatgut einen Namen gemacht hat. Auf kleinen Parzellen werden hier neue Sorten von Tulpen, Hyazinthen und Narzissen vorgestellt. Was dort gerade blüht, lässt sich über eine Webcam beobachten. Die Nachfahren der fahrenden Händler vermarkten jetzt über das Internet. Doch nach wie vor vertraut man auf Kundenbindung: Sammelbesteller fertigen weiterhin Bestelllisten an und verteilen die ausgelieferte Ware in ihrem Umkreis.

Information

Besuchszeit: Der Friedhof ist täglich von morgens bis abends für Besucher geöffnet, ebenso das Versuchsfeld der Firma Fetzer. Einen Besuch lohnt das Samenhändlermuseum im Rathaus, ganzjährig von Montag bis Freitag geöffnet von 8 bis 12 Uhr, donnerstags zusätzlich von 14 bis 18 Uhr, ebenso an Tulpensonntagen im April. Da Gönningen am Aufstieg zur Schwäbischen Alb liegt, treibt hier die Vegetation recht spät aus. Sind in Reutlingen oder Stuttgart die Tulpen am Verblühen, kommt man nach Gönningen gerade zur rechten Zeit. Zugleich überschäumen dann Obstbäume und Schlehensträucher mit Blüten und die Landschaft mutet märchenhaft an.